Soziologische Kontextualisierung der Buchneuerscheinung „Wie und warum es zu zwei gegensätzlichen Islam Versionen gekommen ist“

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mehriran.de – Kurzbeitrag zur Buchvorstellung: „Neue Forschungen zum Koran: Wie und warum es zu zwei gegensätzlichen Islam Version gekommen ist“ von Dr. Azmayesh am 18. Juni 2016 in Hannover. In meinem einleitenden Kurzbeitrag möchte ich auf einige innovative Aspekte der Forschung von Dr. Azmayesh zum Koran aufmerksam machen.

Um aber seinen Beitrag zu kontextualisieren, möchte ich zunächst thesenartig auf einen Zivilisierungsschub der religiösen Orientierung im nachrevolutionären Iran hinweisen, die ich als eine der unbeabsichtigten Folgen der Islamisierung der Revolution bezeichne; und als einen Nachholeffekt des sozialen Habitus der involvierten Menschen auffasse. 

Das bedeutet, dass ich die postrevolutionäre institutionelle Ent-Demokratisierung und den De-Zivilisierungsschub als einen Nachhinkeffekt des sozialen Habitus der Mehrheit der sozialen Träger der Revolution begreife. Als solche ist die „Islamische Republik“ der erste „Islamische Staat“ nach einer langen Modernisierungsphase in jüngster Geschichte.

Mit dem Zivilisierungsschub der Glaubensaxiome der Gläubigen geht eine Transformation ihrer Werthaltungen – als zentrale Elemente der Kultur – einher, die den durch Instinktreduktion und Verhaltensunsicherheit gekennzeichneten Menschen, als generelle Orientierungsstandards dienen. 

Diese Zivilisierung der Glaubensaxiome und Werthaltungen wäre aber ohne die traumatischen Erlebnisse der Menschen im nachrevolutionären Iran kaum vorstellbar gewesen. Mit den schmerzhaften Erfahrungen einer religiös legitimierten totalitären Herrschaft entstand ein massenhaftes Bedürfnis nach einer religiösen Umorientierung, das von den sich als „religiöse Innovatoren“ („Noandischan-e Dini“) bezeichnenden Islamforschern befriedigt wird.

Zu diesen Reformationsbeiträgen gehören auch die Forschungen von Dr. Azmayesh. 

Diese Zivilisierung des Islamverständnisses, die sich in einer religiösen Umorientierung manifestiert, ergab sich aus den Reformierungsversuchen des Islams u.a. durch neue hermeneutische Koran-Rezeptionen in seinem historischen Kontext unter Berücksichtigung der linguistischen Aspekte der Koran-Interpretation, da die Sprache die Welt ist, wie die Menschen sie erfahren. Zu diesen Reformationsversuchen gehören auch die Forschungen von Dr. Azmayesh. 

Einer der Aspekte der Zivilisierung der religiösen Orientierung offenbart sich vor allem in einem „barmherzigen Gottesbild“ gegenüber dem unbarmherzigen und blutrünstigen Gottesbild der herrschenden Islamisten im Iran. Damit wird eine „Religion der Barmherzigkeit“ der „unbarmherzigen Religion“ der Islamisten entgegengesetzt.

Um die Bedeutung der Zivilisierung des Gottesbildes zu begreifen, muss man die Zivilisierung als eine gerichtete Entwicklung individueller Selbstregulierung momentaner trieb- und affektbedingter Verhaltensimpulse oder deren Umleitung auf sekundäre Ziele und deren Sublimierung begreifen. Diese ist eine Veränderung des sozialen Habitus bzw. der Persönlichkeitsstruktur der Menschen in Richtung auf ebenmäßigere, allseitigere und stabilere Selbstkontrollmuster. Dieser gerichtete psychische Transformationsprozess führt zum Strukturwandel des Seelenaufbaus der Menschen zu dem auch die Gewissensbildung gehört.

Ohne sich je von Fremdzwängen völlig loszulösen, gewinnen außerdem die Selbstzwänge gegenüber den Fremdzwängen größere Autonomie. Zu diesen Fremdzwängen gehören auch die religiösen Phantasien und Mythen sowie Götter.

Die Götter haben auf früheren Entwicklungsstufen, also etwa auf den durch Stämme und andere vorstaatliche Überlebenseinheiten repräsentierten Stufen Funktionen, die auf späteren Stufen in weit höherem Maße vom individuellen Gewissen und Verstand erfüllt werden. Für die heutigen gottesfürchtigen Gläubigen hat ihr Gott daher eine gewisse forensische Gewissens-Teilfunktion, dessen Zivilisierung eine entscheidende Bedeutung zukommt; damit können Menschen mit sich selbst und mit anderen Menschen friedlicher leben.

Dazu kommt einer realitätsangemesseneren Darstellung der Anfangsgeschichte des Islams sowie der Biografie des Gründers des Islam, Mohammed, eine entscheidende Bedeutung zu, weil er und seine tradierten Verhaltens- und Denkweisen für die Gläubigen einen fremdzwangsartigen Vorbildcharakter haben. Dies ist eine der innovativen Beiträge von Dr. Azmayesh, dass er das sonst verbreitete realitätsfremde Bild, empirisch begründet korrigiert.

Mit seiner Koran basierten Darstellung der Geschichte des Islams, als Geschichte des Monotheismus seit Abraham bis zu Mohammed, wird dem Islamismus als einer globalen Herausforderung eine alternative Lesart des Islams als eines Wandlungskontinuums entgegengesetzt, die eine unabdingbare Grundlage einer interreligiösen Verständigung und Koexistenz ist. 

Diese Überwindung des Zustand reduzierten Islambegriffes kommt z.B. in seinem Hinweis auf die sechsundzwanzig Koranverse  zum Ausdruck, in denen der Islam als ein Wandlungskontinuum hervorgehoben wird :  „Vers 73 der 21. Sure (Anbia – die Propheten) beschreibt das Fortbestehen der Abrahamischen Lehre jenseits von Zeit und Raum bis zu Mohammed bei den Jüngern der Prinzipien (den Rechtgeleiteten) und bei den Überlieferungen Abrahams. Im Koran werden die Hüter der Abrahamischen Traditionen als göttliche Anführer der Menschheit beschrieben, die unter  himmlischer Führung und geistiger Beziehung zum Göttlichen mit Hilfe übersinnlicher Wahrnehmungsfähigkeiten stehen, um historische Fortschritte zu erzielen.“(S.81)

Unabdingbar ist auch für die Überwindung des Islams, als seine Reduktion auf Scharia und auf die überlieferten kultischen Handlungen, die Hervorhebung der Schrift als Quelle der Zivilisationsmaßstäbe, die als „Forghan“ hervorgehobenen, „kategorische Imperative“ repräsentieren.(S. 69ff.): „Segenreich ist Der, Der seinem Diener Abd den Maßstab al-Forghan herab gesandt hat, damit er die Bewohner der Welt anleite“ ( Der Koran, Sure 25, Vers 1)(S. 69)

Diese Hervorhebung des Guten und Bösen im Sinne der Gebote und Verbote als Verhaltenskriterien wie z.B. Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit unterscheiden sich von Islamistischen, die als überlieferte Verhaltensmuster der Beduinen immer noch sanktionieren werden: „Das Buch, das die endgültigen Unterscheidung al-Forghan enthält, hat er herab gesandt“ (Der Koran, Sure 3, Vers 3,4)(S.69). Damit werden die zivilisatorischen Standards von den jeweils historisch herrschenden Zivilisationsmuster unterschieden.

Diese Lesart setzt mündige Vernunft begabte Menschen im Sinne der Aufklärung voraus, wie es in Sure 12,Vers 111,die auf S. 58 zitiert wird: „In den Prophetengeschichten liegt eine Lehre für Menschen, die sich des Verstandes bedienen…“

Ein zentrales Problem der weiteren Entwicklung des Islams als eines Wandlungskontinuums liegt in dem ethnischen Charakter des auf arabisch kommunizierten Offenbarung: „Alif lam Ra. Dies sind die Verse des eindeutigen, klaren Buches. Wir haben es auf Arabisch offenbart, damit ihr es versteht“ ( Koran, Sure 12, Vers 1-3)(S.58)

Darin liegt eine der wesentlichen kommunikationspsychologischen Aspekte der Entstehung der zwei gegensätzlichen Islamversionen, deren dominant gewordene, sich durch die Expansion der arabischen Herrschaft, kulturimperialistisch weltweit ausbereitete, und heute als Islamismus zur globalen Herausforderung geworden ist.

Deswegen kommt es auf die Lesart dieser Schrift an: „Er ist es, Der dir das Buch herab gesandt hat. Es enthält eindeutige, grundlegende Verse, die verschieden gelesen werden können.“ ( Der Koran, Sure 3, Vers 7)

Zu den kommunikationspsychologischen Aspekten des Korans als unabdingbare Bedingung der Vermeidung von Missverständnissen bezüglich des heiligen Buches der Muslime

„Man kann nicht nicht kommunizieren“(P. Watzlawick)

Was aber die Lesart von Dr. Azmayesh vor allem kennzeichnet, ist eine kommunikationspsychologische Interpretation der Bekenntniszusammenhänge im Koran, wie ich sie verstehe. Dies wäre ohne seine historische Kontextualisierung der in der Regel missverstandenen Wörter im Koran nicht angemessen möglich gewesen; wenn er die vier Dimensionen dieser Kommunikation differenziert aus dem Munde Mohammeds und seiner Adressaten berücksichtigen wollte. Im Unterschied zur sonst üblichen dogmatischen und buchstabentreuen Lesart, die das Buch zu einem Steinbruch verwandelt, aus dem manche das herausholen, was sie wollen; muss die kommunikationsdiagnostische Lesart der Botschaft Mohammeds folgende vier Dimensionen seines Kommunikationszusammenhanges mit seinen Gegnern und den scheinbar Bekehrten berücksichtigen, wie sie im Koran vermittelt werden: 

  • Den inhaltlichen Aspekt, d.h. worüber gegenseitig gesprochen wurde,
  • Den Selbstoffenbarungsaspekt, d.h. was gegenseitig von sich selbst kundgegeben wurde,
  • Den Beziehungsaspekt, d.h. was die Kommunikationspartner gegenseitig von einander gehalten haben,
  • Den Appellaspekt, d.h. wozu sich die Kommunikationspartner veranlassen wollten.

Nur so können die abweichenden Ziel- und Zwecksetzungen der Bekenntnisse Mohammeds und seiner Bekehrungsversuche  und der seiner Gegner und der scheinbar Bekehrten aus den Koran-Versen heraus destilliert werden. Dabei können die abweichenden persönlichen Zwecksetzungen der scheinbar Bekehrten und die von Mohammed vorgegebenen Leitbilder der Gläubigen unterstrichen werden, um die weitere Geschichte des Islams als eines Wandlungskontinuums im Sinne der Etablierung eines Herrschaft legitimierenden Dogmas zu begreifen. Denn „man fragt nicht, woher, durch welche Ursache sich das menschliche Handeln bestimmt, sondern man fragt, wozu, im Dienste welches Zweckes verhält sich der Mensch so, wie er sich verhält.“: „…Wir haben dir den Koran nicht herab gesandt, damit du dich über die Ungläubigen grämst, sondern er ist vielmehr eine Ermahnung an die, die Gott fürchten“ (Der Koran, Sure 20, Vers 1 – 3)  

Einige Thesen zur Entstehung zweier Islamversionen, wie sie von Dr. Azmayesh beschrieben werden

Aus diesen Ziel- und Zweckkonflikten heraus entstanden schon zu Lebzeiten Mohammeds zwei Islamversionen, die über 14 Jahrhunderte die Geschichte des Islams prägten. Schon im Koran, Sure 3, Verse 7 – 8 wird auf die verschiedenen Lesarten des Koran hingewiesen: „Er ist es, Der dir das Buch herab gesandt hat. Es enthält eindeutige, grundlegende Verse, die den Kern des Buches bilden und Verse, die verschieden gedeutet werden können. Diejenige aber, die abwegige Absichten hegen, befassen sich vorrangig mit den nicht eindeutigen, mit der Absicht, Verwirrung zu stiften und eigene Deutungen zu entwickeln. Die einzig richtige Deutung weiß nur Gott allein.“ Schon daraus geht hervor, dass die Entstehung zweier Islamversionen auf einige mögliche kommunikative Missverständnisse der Konvertierten hervorgeht, wenn man einen bewussten Betrugsversuch der scheinbar „Bekehrten“ ausschließen will. Dies vor allem, wenn man die von Dr. Azmayesh beschriebenen Kommunikationsverflechtungen im Koran berücksichtigt.

Eine der Quellen der Missverständnisse liegt in der Kommunikationsdiagnose der involvierten Menschen; denn eine Nachricht enthält vielfältige Botschaften. Deswegen ist immer eine Kommunikationsdiagnose notwendig, um das Botschaftsgeflecht zu begreifen: Genauso, wie man mit den eigenen Augen schaut, aber mit den Augen des Kollektivs sieht; hört man mit den eigenen Ohren, vernimmt aber mit den Ohren des Kollektivs. Mit dieser gerichteten Wahrnehmung ist die von Mohammed abweichende Lesart als ein Nachhinkeffekt des sozialen Habitus der Beduinen zurück zu führen, mit deren stammesgeschitlich geprägtem Denken, Fühlen und Handeln.   So entstehen inkongruente Botschaften, die zu einer widersprüchlichen Handlungs-aufforderung führen können; vor allem, wenn die Mitteilungsebene und die Metaebene nicht übereinstimmen.

Außerdem entstehen bei Bekehrungen zuweilen solche Übergangsspannungen und -Konflikte, die als Nachhinkeffekt des sozialen Habitus der Bekehrten interpretiert werden können. Dabei ist die „institutionelle Islamisierung“ noch nicht tief genug emotional verankert, so dass die tradierten Verhaltens- und Erlebensmuster immer noch handlungs- und erlebenssteuernd dominieren, wie bei den heutigen Modernisierungsproblemen, die zu Islamismus führen.

Darüber hinaus können je nach den Charakterzügen der Scheinbekehrten verschiedene Handlungsmotive wie Gier, Hab- und Machtsucht, Geltungsbedürfnis, Angst und Zorn verhaltenssteuernd gewesen sein und Verflechtungsdynamiken in Gang gesetzt und erhalten haben, die zum heutigen Islamismus geführt haben.

Aber die Psychogenese der Scheinbekehrten ergibt sich u.a., auch wenn man die Scheinbekehrung vor allem als inkongruente Nachricht begreift und danach fragt, welchen Vorteil ein solches Verhalten mit sich bringen könnte?:

  • Ihre inkongruente Nachrichten können den Vorteil haben, dass sie sich nicht ganz festlegen, indem sie ihr Bekenntnis zu Gott und Mohammed als seinem Botschafter äußern.

Eine solche Kommunikation mit doppeltem Boden der Scheinbekehrten braucht nicht bewusst zu sein – oft sind es ihre unbewussten, uneingestandenen Wünsche, die sich durch  den nicht-sprachlichen Kanal zur Geltung bringen. 

  • Als Nachhinkeffekt des sozialen Habitus, die mit Übergangsspannungen und Konflikte einher gehen, verweisen sie auf „zwei Seelen in einer Brust“, weil der scheinbar Bekehrte mit sich selber nicht ganz im Reinen ist – so wie ursprünglich „Verwestlichte“ in islamisch geprägten Gesellschaften, die zu Islamisten mutierten. Dabei zielen verschiedene Bestrebungen und Gefühle nicht am gleichen Strang. Es herrscht also ein inneres Durcheinander. Ihr Scheinbekenntnis zum Islam erweist sich so als ein Verschmelzungsprodukt aus zwei Botschaften.

Die inkongruenten Nachrichten der „Bekehrten“ entstehen also vorzugsweise dann, wenn ihre Selbstklärung noch nicht zum Abschluss gekommen ist, sie sich aber trotzdem zu einem Bekenntnis veranlasst fühlen. Dies ergibt sich durch die Eroberung Mekkas durch Mohammed und der sich damit verschobenen Machtbalance, die sie als ehemalige Etablierten zu Außenseitern werden lässt.

  • Außerdem kann jeder  „Bekenner“ zugleich ein Empfänger sein, der es verfehlt, seine eigenen unterschiedlichen inneren Reaktionen auf Mohammeds Botschaft für sich selbst klar zu bekommen; bei dieser verfehlten Selbstklärung „des Bekenners“, kann er auch nicht klar nach außen reagieren. Seine Scheinheiligkeit ist also Funktion einer kognitiven und emotionalen Dissonanz und Ausdruck der Verhaltenskomponente seiner Einstellung gegenüber der Botschaft und als solches ein Nachhinkeffekt seines sozialen Habitus.

In diesem Sinne sind die heutigen Islamisten und die „Scheinbekehrten“ das Ergebnis der Ungleichzeitigkeit der institutionellen und sozial habituellen Entwicklung der Gesellschaften, die zur Entstehung eines dogmatischen Islams als Legitimationsgrundlage der Kalifate führen. 

Ein Nachholen des sozialen Habitus bedeutet dann, die relativ rückständigen kognitiven, emotionalen und Verhaltenstendenzen ihrer Einstellung zu überwinden, d.h. realitätsangemessener zu denken, zu fühlen und zu handeln lernen. Dazu kann der Umorientierungsvorschlag von Dr. Azmayesh erheblich beitragen.

Das bedeutet nicht, dass das Buch ein Allheilmittel ist; vor allem dann nicht, wenn eine „Gottesvergiftung“ vorliegt, wie in der Massenerschießung der sexuell Andersorientierten in Orlando, Florida. Denn ein Mensch, der ein liebloses, unnatürlich strenges Gottesbild verinnerlicht hat, versucht sich mit diesem Gott durch skrupelhafte Pflichterfüllung zu versöhnen. Dabei versucht er die eigene Angst vor einer Pflichtverletzung – also sein eigenes Schamgefühl – durch scharfe, kleinliche und zuweilen blutige Verurteilung der Vergehen anderer Menschen zu kompensieren, die sein Peinlichkeitsgefühl erregen.

Prof. Dawud Gholamasad, Sozialwissenschaftler, Hannover

http://gholamasad.jimdo.com/

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Kritisch zum Regime. Hintergründe, Fotos, Berichte zu Iran. Positiv zu Land und Leuten.