mehriran.de – Bei der Veranstaltung „Das Paradox der zwei Islam Versionen“ in Hannover, führten die Referenten aus, wie es dazu gekommen ist, dass der historische Islam über so lange Zeit den koranischen Islam in die Bedeutungslosigkeit abgedrängt hat und sich in vielen Köpfen zu einer Religion des Hasses und der brutalen Gewalt geformt hat.
mehriran.de – Am Freitag, 22. April 2016 diskutierten der Soziologe Prof. Dawud Gholamasad, der Religionswissenschaftler Prof. Peter Antes zusammen mit dem Autor des Buches „Neue Forschungen zum Koran – Wie und warum es zu zwei gegensätzlichen Versionen von Islam gekommen ist“, Dr. Seyed Mostafa Azmayesh aus Paris, einige Thesen seines Buches, die bisherige Dogmen unter Theologen und Islamgelehrten in Frage stellen. Die Veranstaltung fand an der Universität Hannover mit Unterstützung von Prof. Antes statt und wurde von dem Hannoverschen Verein Karamat e.V. organisiert.
Einige Erkenntnisse aus dem Abend auf den Punkt gebracht:
- Durch Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte sind neue Perspektiven auf den Koran und die Zeit Mohammeds möglich geworden. So sind Fragmente von Koranexemplaren in den Universitäten Tübingen und Birmingham gefunden worden, die mit Hilfe der Radio-Carbon Methode datiert wurden und überraschend die bisherige These in Frage stellen lassen, der Koran sei erst 200 Jahre nach dem Tod des Propheten aufgeschrieben worden. Die Ergebnisse der Untersuchung des Koranfragments aus Birmingham weisen eindeutig auf eine Zeitgleichheit zu Mohammeds Lebenszeit hin. Das Tübinger Fragment scheint aus einer Zeit 20 Jahre nach seinem Tod zu stammen. Beide Fragmente sind im Hidschazi Schreibstil geschrieben, der in Mekka gepflegt wurde, während spätere Korankopien im Kufi Schreibstil geschrieben wurden, der sich aus dem Nabatäischen weiter entwickelt hat und bei jüdischen Gelehrten in Medina üblich war. Diese Gelehrten wurden nach Kufa (heute im Süden Iraks) umgesiedelt, wodurch der Stil seinen Namen bekam.
- Das Arabische Alphabet hat sich über zwei verschiedene Linien entwickelt und kann bis 100 Jahre vor Mohammed nachgewiesen werden. Mohammed hat laut dem Koran schreiben und lesen können und hat das Schreiben und Lesen seinen Anhängern schon früh ans Herz gelegt, um ihren sozialen Verträge schriftlich und nachvollziehbar festhalten zu können. Sein Ziel war es, einen Paradigmenwechsel im Umgang miteinander auf Grundlage von zivilisatorischen Errungenschaften zu schaffen. Dies ist im Grunde erstmal gescheitert.
- Mohammed hat, grob gesehen, zwei Phasen in seinem Leben gehabt. In der ersten Phase trat er als Lehrer eines spirituellen Schulungsweges auf, der in der ihn umgebenden Region auf einen sozialen Paradigmenwechsel durch ganzheitliche Bildung hinwirken wollte. Dabei hat er auf Methoden zurückgegriffen, die bereits Propheten wie Abraham, Jesus oder Mani angewandt haben. Mohammed hat diese Lehren auf Arabisch an seine Arabisch sprechende Umgebung weiter gegeben. In der zweiten Phase war er der Vorsteher Medinas und hatte ein offizielles Amt inne, so dass er versuchen konnte seine Sozialutopie umzusetzen.
- Mächtige Gegner aus seiner nächsten Umgebung fühlten sich durch die Aufrufe zum Werte- und Paradigmenwechsel bedroht und trachteten Mohammed nach seinem Leben. Nachdem sie ihn und seine Gemeinschaft in Medina immer wieder angriffen, kam es dazu, dass sie sich ihm schliesslich ergaben und Lippenbekenntnisse abgaben, die Lehren des Korans zu akzeptieren. Doch schliesslich untergruben sie den Einfluss Mohammeds und setzten ihre Stammestraditionen unter dem Namen Islam fort. Diese Leute begründeten später die Omajaden Dynastie und eroberten große Teile der Welt, wohin sie ihre „beduinischen“ Werte unter dem Namen Islam exportierten. Das Prinzip der Stammestraditionen unter der Flagge des Islams setzte sich auch in den später herrschenden Dynastien fort.
- Nach und nach wurden die in die Lehren des hermeneutischen Koran eingeweihten Gefährten ausgeschaltet und statt des Korans wurden sogenannte Revâyat (Überlieferungen und Kommentare, die einige Theologen Mohammed zuschrieben) als Orientierungspol für die Muslime festgesetzt. Viele Bücher und Texte aus der Zeit vor Mohammed wurden vernichtet und damit Spuren getilgt, den koranischen Islam besser zu verstehen. Forscher wie Hassan Basri ( 8. Jahrhundert) wurden ignoriert und Kommentatoren, die den Kalifen und Herrschern die nötige Legitimation verschafften, zu Leuchten der Religion erhoben.
Welche Relevanz haben all diese Thesen für die Herausforderungen Europas? Wie bringen uns diese Perspektiven in Bezug auf die vielfältigen Radikalisierungen einerseits und den Ängsten vor Überfremdung durch Flüchtlinge und Asyl-Suchende aus sogenannten islamischen Ländern weiter?
Wer bekommt die Deutungshoheit in Bezug auf Islam? Kräfte, die den historischen, Stammestraditionen fortsetzenden Islam als mit der Attitüde der Mächtigen durchsetzen wollen und die sich anderen Bekenntnissen, Lebensentwürfen und Weltanschauungen als höherwertig einstufen oder Vertreter eines koranischen Islam, der auf Gleichheit und Gleichbehandlung aller Menschen baut und auf die Entwicklung von Individuum und Gemeinschaft setzt?
Hier sind einige Überlegungen dazu zusammengefasst. Einen weiteren Ansatz formulierte Dr. Azmayesh mit der Notwendigkeit der Zeit Spiritualität mit der Moderne zu versöhnen. Er bescheinigte dem Koran das Potential, positive Signale im Umgang miteinander zu setzen. Es kommt darauf an, die hermeneutische Sprache des Korans verstehen zu lernen.
Eine Metapher aus dem Koran veranschaulicht das Gebot der Gleichbehandlung: Ganz gleich, ob Jude, Christ oder Heide bei einem muslimischen Kaufmann kaufen kommen, der Kaufmann darf nicht mit zweierlei Maß messen und heimlich manipulierte Gewichte einsetzen, um Nicht-Muslimen einen Nachteil zu schaffen. Er soll für jeden Käufer ohne Ausnahme das gleiche geeichte Gewicht verwenden.
Und das am Ende auf Persisch rezitierte Gedicht des Dichters Saadi gibt in wenigen Worten den Geist des Korans gemäß Dr. Azmayesh wider:
Bani Âdam (Die Kinder Adams)
Sa’adi Schirazi, ein persischer Dichter aus dem 13. Jahrhundert
Die Menschenkinder sind Brüder und Schwestern,
aus einem Stoff wie eines Leibes Glieder.
Sobald ein Leid geschieht nur einem dieser Glieder,
dann klingt sein Schmerz sogleich in ihnen allen wider.
Wenn andrer Menschen Schmerz dich nicht im Herzen brennet,
verdienst du nicht, dass man noch Mensch dich nennet.
Human beings are members of a whole,
in creation of one essence and soul.
If one member is afflicted with pain,
other members uneasy will remain.
If you’ve no sympathy for human pain,
the name of human you cannot retain.
Les hommes font partie du même corps.
Ils sont créés tous d’une même essence.
Si une peine arrive à un membre du corps
Les autres aussi, perdent leur aisance
Si, pour la peine des autres, tu n’as pas de souffrance
Tu ne mérites pas d’être appelé Homme.
Bàni âdam azâye yekdigarand
Ke dar âfarinesch ze yek goharand
Cho ozvi be dard âvarad ruzegâr
Degar ozvohâ ra namânad gharâr
To kaz mehnate digarân bi ghami
Naschâyad ke nâmat nahand âdami.
Nach der Veranstaltung führte eine Reporterin von DorrTV ein Interview mit Prof. Antes und mit Prof. Dawud Gholamasad zu den Thesen von Dr. Azmayesh auf Englisch.
Wie wird es weiter gehen?
Offizielle Buchvorstellungen von „Neue Forschungsergebnisse zum Koran“in Berlin, Gießen, Wien und Hannover im Mai/Juni und vertiefende Diskussionen werden bald hier bekannt gegeben.
© Helmut N. Gabel, 2016