Strafgericht oder spirituelle Entwicklung

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Mehdi Karroubi wird der Weg zu einer Rede vor Studenten gebahnt

Vom Wirken religiös-politischer Kräfte im Iran und ihrer Relevanz für uns in Europa

mehriran.de – Im Iran wird es immer gefährlicher, selbstständig zu denken und dies öffentlich kund zu tun. Das Auswärtige Amt berichtet, dass im Iran zivilgesellschaftliche Spielräume zunehmend enger werden. Menschenrechtsaktivisten, wie die Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi, sehen sich häufiger Repressionen der iranischen Regierung ausgesetzt. Angehörige religiöser Minderheiten sind von massiven Einschränkungen ihrer Freiheitsrechte betroffen. Vor allem Bahai, Sufis und Christen sind betroffen. Ideologisch rechtfertigt die iranische Regierung ihr entschlossenes Vorgehen mit der Abschreckung von „Unruhestiftern“ und dem Schutz der Prinzipien der Islamischen Republik vor „einer vom Ausland gesteuerten samtenen Revolution“.
In Europa ist es nicht allzu lange her, dass wir als Individuum unser Leben in relativ freier Weise gestalten können. Viele unserer Vorfahren haben ihr Leben für das kostbare Gut der Freiheit in die Waagschale geworfen. Wir können uns heute mit Christentum, Buddhismus, Hinduismus, Islam, Schamanismus, Chakren-Lehre, Rudolf Steiner oder Ken Wilber in freier Weise befassen. Das, was wir als Freiheit zur individuellen Entwicklung begreifen, könnte in naher Zukunft auch in Europa wieder in Gefahr kommen. In der Islamischen Republik Iran setzen sich fundamentalistische Kräfte durch, die ein großes Ziel haben: den Export der schiitisch-islamischen Verquickung von Religion und Staat nach iranischem Gusto.

Die finsteren Kräfte in der Politik der Islamischen Republik Iran

Iran ist ein sehr schönes Land. Die Kulturleistungen der Menschen dieser Region sind unbestritten. Aber die derzeitige Politik im Iran ist Menschen verachtend. Im Westen bezeichnen viele Kommentatoren die islamische Republik als ein islamo-faschistisches Regime. Prinzipientreue Vertreter des Velayat-e-faghih Systems wollen mit allen Mitteln das System aufrecht erhalten. Es ist ein religiös-politisches System, das sich in der Stellvertretung Gottes sieht und Regeln aufstellt, deren Verletzung mit mittelalterlichen Strafen geahndet wird. In manchen Provinzen Irans werden wieder Steinigungen durchgeführt. Die Zahl der öffentlichen Hinrichtungen stieg zuletzt stark an. Männer wie Frauen werden an Baukränen erhängt. Die Hüter des Systems stabilisieren künstlich ihre Macht, indem sie eine permanente Atmosphäre von Angst erzeugen und die Bevölkerung einschüchtern. Nach 30 Jahren islamischer Revolution ist ein Großteil der Menschen mit den Verhältnissen im Land unzufrieden. Sie fühlen sich ihrer Entwicklungschancen beraubt und in rückwärtsgewandte Vorschriften, wie die Kleiderordnung oder das Verbot freier Meinungsäußerung, gezwängt. Dies belegen zahlreich Blogger aus dem Iran und ins Exil getriebene Iraner. Ein großer Teil der Bürger hält sich aus dem politischen Geschehen heraus, weil sie keine Möglichkeiten sehen, eine Verbesserung zu erreichen. Unter anderem war diese Zurückhaltung im Jahr 2005 ein Grund, warum Mahmoud Ahmadinedschad die Wahl gewonnen hat. Der andere Grund: Leute aus ländlichen Gebieten, die nur spärlichen Zugang zu Bildung haben und wenig besitzen, konnten die Hardliner mit zwei Versprechen ködern. Die Armen sollten die Öleinnahmen auf ihrem Tisch zu sehen bekommen und islamische Regeln sollten strenger zur Anwendung kommen. Die Regeln werden seither strenger gehandhabt. 

Gottes Faust und Gottes Güte

Ein neues Gesetz bestraft Apostasie mit dem Tod. Mit Apostasie ist der Abfall vom islamischen Glauben gemeint. Dieses Gesetz entstammt den religiösen Geboten der Scharia und wurde Anfang September 2008 vom Parlament angenommen. Das Gesetz ist zugleich eine öffentliche Aufforderung an jeden rechtgläubigen Muslim überall in der Welt vom Islam Abgefallene zu töten, denn jeder „rechtschaffene Gläubige“ gilt zugleich als Hüter und Verteidiger islamischer Werte und kann bei Gehorsam mit himmlischer Belohnung rechnen. Das Gesetz bezieht sich unter anderem auf die Abkehr vom islamischen Glauben, auf Beleidigungen von hochstehenden religiösen Persönlichkeiten, auf die Behauptung in direkter Verbindung mit Gott oder dem zwölften Imam zu stehen oder darauf einen individuellen spirituellen Weg zu praktizieren, wie ihn die Sufis anwenden. Seither wird die Situation der Sufis des Nematollah Gonabadi Ordens im Iran bedrohlicher. Der schiitische Orden der Nematollah Gonabadi Derwische hat laut eigenen Erhebungen zwei Millionen Mitglieder, Tendenz steigend. Dies ist eine eindeutige Konkurrenz und Bedrohung für das System, das seit 2006 regelmäßig Versammlungshäuser der Sufis niederreißen lässt und die Derwische kommentarlos ins Gefängnis steckt. Wer also in Zukunft Sufi sein will, gilt als Konvertit. Laut neuem Gesetz müsste in diesem Fall die Todesstrafe angewandt werden.
Während die systemtreuen Kräfte ihre Herrschaft auf Strafgerichte und zentrale Vorgaben in allen Lebensaspekte für jeden Bürger ausrichten, konzentrieren sich die Sufis auf Selbsterkenntnis und Selbstverantwortung und im Umgang mit anderen auf Toleranz und Liebe. Sufis leben nach dem Motto: „Wer sich selbst versteht, versteht die ganze Welt.“ 
Das System des Velayat-e-Faghih baut auf Gehorsam gegenüber dem Obersten religiösen Führer und lässt keine Abweichungen zu. Es gilt das Prinzip: wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Damit ist jeder Sufi verdächtig, ein Spion des Westens zu sein. Eine kleine Einschränkung in dieser Frage weist auf die komplexe Staatsräson hin. Unter den Sunniten Irans gibt es auch Sufi Gruppierungen, die aber nicht verfolgt werden. Diese sunnitischen Sufis gelten als eine moderate Bastion in einer Grenzregion Irans, die von sunnitischen Extremisten zum Unruheherd gemacht wird. 
Wer sich an die Regeln hält, mit dem System sympathisiert oder sonst irgendwie als nützlich erachtet wird, wird mit Arbeit, Studium und Karriere belohnt. Die ideologisch gleichgeschalteten Bassidschi, eine paramilitärische Freiwilligenorganisation, und die Pasdaran, eine dem System loyale Streitmacht, gelten als Wächter der Prinzipien der Revolution, sie sind die eigentlichen Profiteure des Regimes. 

Was hat die Politik im Iran mit uns in Europa zu tun?

Europäische Regierungen beobachten kritisch die subtile Propaganda der iranischen Zentren im Westen. Der deutsche Verfassungsschutz ist besorgt: „In Deutschland existieren eine Reihe von Zentren regimetreuer Iraner, die der iranischen Staatsführung unterstehen. Diese sind beauftragt, die theokratische Staatsdoktrin zu propagieren und die in der iranischen Verfassung verankerte weltweite Verbreitung des islamischen Systems iranischer Prägung im Sinne eines „Revolutionsexports“ zu betreiben.“ 
Dieser „Revolutionsexport“ steht mit weiteren Umständen im Zusammenhang: Ein neuer Trend bei vielen Kindern von Migranten in Frankreich, Belgien, Großbritannien, Holland und zunehmend auch in Deutschland lässt zurzeit aufhorchen. Sozialstudien sprechen von Jugendlichen, die sich in Europa in einem kulturellen Niemandsland fühlen. Auf ihrer Suche nach Identifikation und Halt öffnen sie sich bereitwillig revolutionären Konzepten. Was gibt ihnen dabei Halt? Sie fühlen sich angezogen von dem Konzept eines Islams, der gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu kämpfen vorgibt. In diesem Kampf fühlen sie sich verstanden und vereint. In Verbindung mit dieser apokalyptischen revolutionären Schia-Ideologie zu sein, erscheint vielen als Perspektive, aus einer engen sozialen Nische mit einer „sinnvoll legitimierten Aufgabe“ herauszubrechen. Dies nutzen die iranischen Revolutionäre geschickt aus und scharen viele Sympathisanten hinter sich. Mahmoud Ahmadinedschad‘s wiederholten Provokationen gegen den Westen dienen dem Zweck der Propaganda. Damit schafft er zwar bei manchen im Westen das Image eines Schurkenstaates, erhebt sich selbst aber als Meinungsführer und den Iran als Hort der Gerechtigkeit bei allen, die sich als Unterdrückte fühlen. Hier liegt eine Gefahr für Europa.

Mehdi Karroubi als Verteidiger der Sufis

Der reformorientierte Herausforderer von Ahmadinedschad, Mehdi Karroubi, ist Teil des politischen Establishments innerhalb Irans. Ende Mai sagte er bei einem öffentlichen Vortrag, die aktuelle Regierung missbrauche den Islam als Maske, um ihre Menschen verachtende Fratze zu verbergen. Er bezeichnete das Wirken der aktuellen Regierung als nicht vereinbar mit islamischen Prinzipien und als eine Gefahr für die gesamte Welt. Karroubi ist der erste Politiker, der sich den Angriffen auf die Sufis im Iran entgegenstellt. Er folgt in seiner Argumentation dem Vertreter des Nematollah Gonabadi Ordens im Ausland, Dr. Seyed Azmayesh, einem Religionswissenschaftler und Sufi Meister mit Wohnsitz in Paris. Azmayesh setzt sich seit dem Amtsantritt von Ahmadinedschad dafür ein, die Öffentlichkeit in Europa auf die Gefahren für die freie Welt aufmerksam zu machen. In Sendungen, die über Satellit in den Iran übertragen werden, weist er nach, wie die Handlungen der Hardliner dem innersten Wesen des Islam zuwiderlaufen und die Regierung Ahmadinedschad das Etikett Islam für weltpolitische Machtansprüche benutzt. Azmayesh betont, dass Sufis eine tolerante Interpretation des Islam leben. Die Derwische berufen sich auf den Koran, wo geschrieben steht: „Bemühe Dich darum, das Buch Deines Selbst zu verstehen, das ist genug.“ 
Für die Sufis bedeutet Islam eine tägliche achtsame Auseinandersetzung mit den eigenen Gedanken, Gefühlen und Handlungen und die Entwicklung ihres spirituellen Kerns. Selbstverantwortung, Selbstmeisterung und Selbstbefreiung sind ihre drei Kerndisziplinen. Dafür werden sie im Iran verfolgt.
Karroubi gewinnt durch seine offenen Worte kurz vor der Präsidentschaftswahl vor allem unter Studenten neue Anhänger. Ob das für seine Wahl reicht, wird sich am 12. Juni zeigen.
Für uns im Westen stellt sich die Frage, ob sich das Leben unserer Kinder in einer Atmosphäre religiös-staatlicher Strafgerichte oder einer Kultur der selbstverantwortlichen spirituellen Entwicklung führen lassen wird. 

© mehriran.de, Helmut N. Gabel

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